Seiten

Dienstag, 24. Februar 2015

Türkei: Gesellschaftliche Realität holt Sport ein

Seit nunmehr über einem Jahr sind in türkischen Fußballstadien politische Äußerungen verboten. Zumeist wird dieses Verbot nur auf oppositionelle Gruppen angewendet wird, der Regierung nahestehende Bekundungen wie Unterstützung der Opposition in Ägypten oder großosmanische Träume bleiben von diesem Verbot unberührt. Doch trotzdem finden sich immer wieder gesellschaftspolitische Äußerungen in den Stadien wieder.

Wie zuletzt bei den Grubenunglück in Soma (siehe: Grubenunglück in Soma: Fußballklubs helfen), dem twitter-Verbot (siehe. Galatasaray setzt sich für twitter ein ) kann sich der Sport nicht komplett in einen von der Gesellschaft abgekapselten Raum zurückziehen. Zu groß ist die emotionale Entrüstung bei aktuellen Themen, so groß dass ein Nicht-Verhalten den Vereinen, Spielern oder Fans negativ entgegenschlagen würde.

Vergewaltigung und anschließender Mord schockt das Land

Mit der Vergewaltigung und dem anschließenden Mord an der Studentin Özgecan Aslan im der südtürkischen Stadt Mersin, wurde die Öffentlichkeit in der Türkei erneut schmerzlich mit der zunehmenden Gewalt gegenüber Frauen konfrontiert. Und diese Tat scheint der berühmte Tropfen zu sein, der das Faß zum überlaufen brachte. Denn in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Opfer erheblich gestiegen, oder zu mindestens die Wahrnehmung dieser Taten, wie Familienministerin Islam der Presse gegenüber anmerkte. Zahlen veröffentlichte die Webseite „dogruluk payı“, die politische Äußerungen von Politikern untersucht und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Demzufolge sind nur in den Jahren 2002-2013 allein 13381 Frauen infolge von Gewalteinfluß verstorben. (Siehe: http://www.dogrulukpayi.com/beyanat/54e44aa24f8cc )

Nun, seit dem Mord an Özgecan gibt es täglich im Land Erinnerungsmärsche und Demonstrationen gegen Gewalt von Männern, bei twitter und dem türkischen online-Dictionary „ekşi sözlük“ posten unter dem Hashtag #sendeanlat Frauen aus der Türkei ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen.

Auch Sportscene geschockt

Der Tod von Özgecan Aslan hat das Land erschüttert, so sehr erschüttert, dass dies auch in der Fußballscene seinen Ausdruck fand. Den Anfang machte einer der erfolgreichsten Trainer des Landes. Mustafa Denizli zur Zeit als Kommentator bei dem Pay-TV Sender Lig TV tätig, äußerte sich Live on air. Angesprochen auf das Spiel Gaziantepspor gegen Fenerbahçe antwortete er: „ Meine Gedanken beschäftigen sich nun nicht mit Fenerbahce oder so. Meine Gedanken sind bei Özgecan Aslan.“ Danach führte er die Abscheulichkeit der Tat aus und betitelte sie als mittelalterlich. Daraufhin übte er scharfe Kritik an den Medien und schloß seine Ausführungen mit der rhetorischen Frage. „Nach solch einer Tat, wie können wir in unserem Land da noch über Fußball reden?“ Auch der berühmte Ex-Nationalstürmer und Parlamentsabgeordnete Hakan Şükür unterstützt die Äußerungen Denizlis per twitter. Zudem haben viele Fans in der Türkei ihre Trauer und ihre Wut per Transparenten in den Stadien getragen, sei es bei den großen Vereinen in Istanbul, aber auch bei Spielen in Anatolien und an den Küsten wurde Özgecans Aslan gedacht. Auch Spielerinnen und Spieler beteiligten sich. Galatasaray lief mit einem Transparent auf und in der Heimatstadt Özgecans, Mersin , lief der ansässige Klub Mersin İdmanyurdu in T-Shirts auf, auf denen ein Foto Özgecans abgebildet war.

Die Eingang von gesellschaftspolitischen Ereignissen in den sportlichen Alltagsdiskurs in der Türkei wird aufgrund der repressiv ausgelegten Regierungspolitik immer seltener. Aber das Beispiel Özgecan Aslan zeigt, das Politik nie ganz aus den Stadien raus zu bekommen ist.

Querpässe ins Abseits

Wohin diese Diskurse führen können wenn sie von der Sportwelt adaptiert werden, oder bzw. auf welchen Niveau diese Diskurse dann geführt werden zeigt folgendes Beispiel. „Beyaz Futbol“ ist eine der unzähligen Talkshows zum Thema Fußball, welche an Spieltagen die Sendeplätze der großen und kleinen TV-Stationen besetzen. Hier sitzen dann hauptsächlich Männer zusammen, die teils informativ und sachlich, jedoch auch oft provokativ und laut die aktuellen Szenen des Spieltages kommentieren. Auch gesellschaftspolitische Themen finden hier zuweilen Eingang in die Produktionen. So auch bei „Beyaz Futbol“ letztes Wochenende. Im Hintergrund wurde regelmäßig ein Bild Özgecans eingeblendet, mit trauriger Musik unterlegt und die TV-Show Protagonisten legten ihre ernstesten Minen auf. Bis dahin alles ganz normal. Bis mitten in der Sendung Pop-Star und Ex-Survivor Kandidat Nihat Doğan im Studio anrief und durchgestellt wurde. Zuvor war Nihat Doğan öffentlich scharf kritisiert worden, für einen Tweet der sexuelle Übergriffe auf Frauen indirekt als Folge der laizistischen Politik bezeichnete. Dies wollte er nun bei „Beyaz Futbol“ klar stellen. Doch er kam kaum zu Wort. Minutenlang wurde auf ihn energisch eingeredet. Besonders Ahmet Çakar, ehemaliger Schiedsrichter, schrie den Musik-Star an. „Entschuldige Dich und leg auf. Du sollst Dich nur entschuldigen und auflegen.“ Irgendwann murmelte Nihat, in Tränen aufgelöst, so etwas wie einige Entschuldigung. Doch gerade die lautstarke Echauffierung des Ex-Schiedsrichters brachte nun ihn selbst in die Kritik. Hat Ahmet Çakar doch in der gleichen Sendung vor ein paar Jahren noch, im Zusammenhang mit einer anderen Missbrauchs-Diskussion, die entsetzliche These aufgestellt, dass eine Frau die nicht wolle, auch nicht vergewaltigt werden könne. Nun steht er selbst wieder im Kreuzfeuer der Kritik.

Fenerbahce Fangruppe 12numera.org prangert Äußerungen von Ahmet Çakar an:

Doch auf für Nihat Doğan ist noch keine Ruhe angesagt. Der leidenschaftliche Galatasaray-Fan ist auch Mitglied bei den Löwen. Doch einen offensichtlichen sexistischen Atatürk-Feind will der Verein dann doch nicht haben. Flugs wurde auf einer Vorstandssitzung der Ausschluß von Nihat Dogan eingeleitet. Er selbst schießt nun zurück und fordert die Rückzahlung von Beträgen die er zur Unterstützung des Vereins geleistet habe. Die Reaktion von Galatasaray kam prompt und fragt öffentlich, von welchen Geldern denn hier gesprochen würden und fordert indessen noch ausstehende Mitgliedsbeiträge ein.

Fotos von Protesten der Fußballfans findet ihr hier.
Türkische Fussballfans gegen Gewalt gegen Frauen
Istanbul-Fans gedenken Özgecan Aslan